Sonntag, 12. Juli 2009

Option und Schulen im Krieg - Erinnerungen an die „Reichsschule für Volksdeutsche“ in Rufach

Unter dem Titel „Schönes Rufach[i]“ brachte die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ am 19.12.02 einen Leitartikel zu einer Sendung der RAI, in der zum Thema der 1940 für schulpflichtige und studierende Söhne der Optanten in Rufach (heute Rouffach) im Elsaß am Fuße der Vogesen eingerichteten „Reichsschule für Volksdeutsche“[ii] , zu der 1941 auch eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ (Napola)[iii] dazu kam. Ein gleichartiges Institut (ebenfalls „Anstalt“ genannt) wurden für Mädchen in Achern in Baden am Osthang des Schwarzwaldes eingerichtet.
Eine lockere Runde von ehemaligen Insassen, begleitet von Original (allerdings stark zensierten und damit „geschönten“) Filmberichten plauderte über ihre Erinnerungen an diese Zeit. Da sie diese im tirolischen Jargon u.a. auch als „barig“ bezeichneten, riefen sie den Widerspruch des Unterzeichneten herauf, der aus gegebenem Anlass nachstehend von seinen eigenen Erlebnissen, zusammen mit zeitgeschichtlich belegtem Hintergrund berichtet. Vom „schönen Rufach“ bleibt wenig übrig.

Gleich vorweg: ich bin Jahrgang 1931 und war im Oktober 1941 (also im Alter von 10 Jahren), mit dem sog. „2. Transport“ nach Rufach gekommen und war dort mit zwei älteren Brüdern bis Sommer 1943 als Schüler der „Reichsschule für Volksdeutsche“ = Oberschule 1. und 2. Klasse. Meine Eltern waren inzwischen ausgewandert und so wechselte ich in die Oberschule nach Bregenz. Ebenfalls vorweg: für mich (und für die meisten meines Alters) war die Zeit in Rufach keineswegs „bärig“, sondern die düsterste Zeit meiner Jugend. Schlimmer als die gesamte Zeit unserer Abwanderung „heim ins Reich“ von 1942 bis 1947.

Ist „Rufach“ tabu in der Schulgeschichte Südtirols?
Es gibt zum Thema der „Südtiroler Schulgeschichte 1939-1945 eine Reihe von Büchern und Veröffentlichungen. „Rufach“ scheint jedoch ein Tabuthema zu sein, denn keines der Bücher (zumindest der mir bekannten) berichtet zu dieser Schule in gebührendem Umfang. Es gibt eine umfangreiche, wissenschaftliche Arbeit als Diplomarbeit[iv] an der Universität in Innsbruck. Ein Sonderheft des „Föhn“ mit dem Titel „Südtirol 1939-45 Option, Umsiedlung, Widerstand“ mit einer Einleitung von Leopold Steurer, ist u.a. dieser Frage gewidmet, eine Sammlung von interessanten Dokumenten der Zeitgeschichte ist darin zu finden. Letzterer hat auch weitere Einzelberichte zu diesem Thema verfasst.

Bild 1 „Auslese“ Lager auf der Seiser Alm

Bild 2 Auch die künftige Prominenz ist dabei (1941)

Von den seinerzeit verantwortlichen Akteuren lebt keiner mehr und die betroffenen Schüler sind inzwischen auch schon 70-80 Jahre alt, so dass ein Informationsbedarf gegeben scheint Auch hat keiner von Ihnen eine schriftliche Berichterstattung dazu hinterlassen. So scheint der nachfolgende Erlebnisbericht die einzige Auslassung dieser Art zu sein und soll dazu beitragen, der Simplifizierung entgegenzuwirken, und das „Rufach“ als einschneidendes Erlebnis einer ganzen Generation von Südtiroler Oberschülern in der Zeit des schlimmsten Bildungsnotstandes zu Beginn des letzten Krieges darzustellen. Schilderungen persönlicher Erlebnisse sollen das gegebenenfalls unterstützen.

Die Option und Ihre Folgen für den Schulbetrieb
Die leidige Option hat bekanntlich ihren Ursprung in einer Vereinbarung vom 23. Juni 1939 zwischen Hitler und Mussolini. Zu dieser Vereinbarung gab es Monate später eine Durchführungsbestimmung mit dem Titel: „Richtlinien für die Rückwanderung der Reichsdeutschen und Abwanderung der Volksdeutschen aus dem „Alto Adige“ in das Deutsche Reich. Zur Schulfrage finden wir darin folgende Festlegung:

„Den abwandernden Eltern ist es, sobald sie die Deutsche Reichangehörigkeit erworben haben[v], erlaubt, ihren Kindern vor der Abwanderung deutschen Privatunterricht geben zu lassen, unter Beobachtung der hierfür im Königreich Italien geltenden Bestimmungen.“


Zur Lösung der organisatorischen Fragen zum Schulproblem wurde in Bozen die u.a. ADERST (Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle) unter Heinz Deluggi, dem Lehrer Albert Strobl und später in der ADO auch Norbert Mumelter beauftragt. Prof. Dr. Josef Strobl wurde mit der Kontaktierung der Stellen im Deutschen Reich beauftragt[vi]. Die Schulbildung hatte katastrofale Formen angenommen. Dazu berichtete Deluggi an die ADERST wie folgt: seit der Einführung der seit 1924 nur in italienischer Sprache gehaltenen Volksschulen hat sich folgendes entwickelt[vii]:

  • „Die italienische Staatschule entließ 1939 ca. 45% Analphabeten, d.h. die Schulentlassenen konnten das Gelesene nicht verstehen und waren nicht imstande, irgendeinen Gedanken schriftlich niederzulegen. Der Großteil der Schulentlassenen, besonders weit entlegener Berg- und hinterster Taldörfer, kannten weder alle Druckbuchstaben noch Schreibzeichen.“
  • „Auch jene, die in geringem Maße die italienische Sprache gelernt hatten, waren nur zu seltenem Falle befähigt, Gelerntes aufzufassen und wiederzugeben“
  • 95% der Schuljugend und der Schulentlassenen konnten ihre Sprache nur in der Mundart“. (siehe Bild 3, Textprobe)

Zu den einzuführenden Sprachkursen, die der Erlernung der Deutschen Sprache als Vorbereitung für den Besuch Deutscher Schulen nach der Auswanderung dienen sollten, enthalten die „Richtlinien“ folgende Bestimmungen[viii]:

      • „Die Sprachkurse betreffen nur Kinder von Volksdeutschen, die nach Deutschland abwandern werden
      • Es darf kein anderer Unterricht, als ausschließlich Sprachunterricht erteilt werden. Kundgebungen, Gesangsunterricht oder ein anderer Fachunterricht sind absolut unzulässig.
      • Der Besuch der staatlichen Schule (italienische Schule) wird empfohlen“.
            Die „Deutschen Sprachkurse“ begannen im ganzen Land mit dem 23. März 1940. Es ist nachzulesen, mit welchem Stolz und Genugtuung die Eltern nun ihre Kinder zum ersten Schultag in eine DEUTSCHE SCHULE begleiteten.



            Bild 3 Teil eines Briefes einer 16 jährigen, 11.12.1940 (aus 5, Dr. Sailer)
            Libe fraindin Rosa
            Ich will dir ain klainen Brif scraiben. Ich weis das du dainer Famiglie gescriben hast. Ich wais schon das zuerst mus man der famiglie scraiben dann kommen di anderen, ich dachte du hast nicht zait gehabt mir zu scraiben ........

            Die SS übernimmt die Leitung der ADERST in Bozen
            Inzwischen war ein Dr. Wilhelm Luig, SS-Obersturmbannführer aus dem Reich zum Leiter der ADERST berufen worden, der auch das Abkommen über die Deutschen Sprachkurse mit den ital. Behörden unterzeichnet hatte [ix]. Das Geschehen in der ADERST war schon zu diesem Zeitpunkt den Bozner Funktionären entglitten und das künftige Konzept Rufach war wohl ebenfalls festgelegt, als dies noch keiner ahnte.
            Unter dem Titel „Höhere Schulen für Volksdeutsche im Reich“ lesen wir bei Rainer Seeberich [x] :
            • Etwa 1000 Schüler meldeten sich zu Oberschulen, von denen [xi] nach Ausbildungslagern (Bild 1 u. 2) 470 Schüler auf die „Oberschulen für Volksdeutsche „ nach Rufach im Elsaß und 223 Schülerinnen auf die „Oberschule für Volksdeutsche“ nach Achern in Baden kamen.

            Bild 4 Ankunft 1.Transoprt in Rufach (Okt.40),
            Lehrer Albert Strobl vom ADERST in Bozen mit seinen Schülern wird von SS-Leuten abgeholt

            In Erwartung der baldigen Abwanderungen waren von Seiten der ital. Regierung also keine vollwertigen Schulen irgend einer Art in deutscher Sprache für die Optanten vorgesehen. An dieser Stelle hätten die Verantwortlichen der ADERST in Bozen auch merken müssen, dass es völlig unrealistisch war, in Südtirol von Italien Deutsche Oberschulen zu erwarten. Es war andrerseits ebenfalls unrealistisch, dass die Südtiroler weiterhin die ital. Schulen besuchen würden. Die baldige Übersiedlung mit allen Konsequenzen war vertraglich festgelegt und (wie bereits erwähnt) dienten die Deutschen Sprachkursen nur vorübergehend zu besseren Erlernung dieser Sprache im Volksschulbereich. Zu diesem Zeitpunkt empfahl die Regierung in Rom auch den Auswanderern einen weiteren Besuch der ital. Schulen. Es war also nicht so, dass diese „keine Schule“ besuchen durften, wie vielfach berichtet wird.

            Damit beginnt die Story der „Rufacher“.
            Diese Aktionen brachten eine sehr bunte Mischung an Schülern nach Rufach (Bild 4 u. 7). Eine besondere Attraktivität der Schule bestand übrigens auch darin, dass damit für die Eltern keinerlei Kosten, weder für Unterkunft oder Schule samt Lehrmitteln verbunden waren, ja man bekam auf Verlangen auch noch ausreichend Taschengeld.
            Auch in Rufach war die SS allgegenwärtig; wer erinnert sich nicht an den sich recht jovial gebenden Lehrer Brenner, der stets (und als einziger Lehrer) die schwarze Uniform der SS-Totenkopf-Division trug. Nie war er an kernigen und harten Sprüchen verlegen, und man hatte den Eindruck, dass er bei den Schülern gar nicht unbeliebt war, zumindest taten sie so.

            In Rufach bei der Hitlerjugend [xii]
            In Rufach waren die Altersklassen von etwa 1923 bis 1931 vertreten, ein relativ großer Altersunterschied, innerhalb dessen man die Dinge durchaus sehr

            Bild 5 „Willkommen“ am Anstaltseingang

            verschieden sehen und erleben kann. Nun sind Erziehungsanstalten für die männliche Jugend in aller Welt keine „Madchenpensionate“. Ein gewisser rauer Ton ist in pubertierenden Altersgruppen kaum vermeidbar, aber die schon erwähnten neuen Erziehungsmethoden führten unweigerlich zu unschönen Exzessen. Während der Zehn-jährige kaum dem Kindesalter entwachsen war, so war der 17jährige möglicher Weise schon Herr der Lage und in seiner Umgebung dominierend, wenn er sich entsprechend dem HJ - Gebaren verhalten durfte. Und dafür war Rufach aus seiner nationalsozialistischen Erziehungsauffassung wie geschaffen. „Gelobt sei, was hart macht“ war bekanntlich eine der Leitlinien der Hitler Jugend. Das gesamte Leben war von einem einem militärischen Drill im Sinne einer totalen Unterwerfung zugunsten eines












            Bild 6 Die Anstalt am Fuße der Vogesen

            allgegenwärtigen Gehorsamsprinzip von einem „Kampf“ und einem Gewaltpotential durchzogen, von der Macht des „Starken“ über den “Schwachen“. Dies geht auch aus den unten eingefügten Ausführungen des Anstaltsleiters Billing hervor, der in seinem letzten Absatz selbst den Aufbau der Schule als „Kampf“ bezeichnet. Nach heutiger Auslegung so etwas wie ein Psychoterror, in


            Bild 7 Zugf. Mangold[xiii] mit den ersten Ankömmlingen

            dem das Wohlergehen der Schüler kein Thema war. Die Schüler waren in ihrer Freizeit ohne besondere pädagogische Führung durch Erwachsene einander ausgeliefert, jeweils ältere Schülern der höheren Klassen übernahmen nach Art des Kasernendienstes die Rolle eines „Jungmannzugführers vom Dienst“ und dienten der Aufsicht. Negative Auswirkungen hatte dies alles besonders in den untersten Schulklassen im Altersbereich der Pubertät, wo durch dieses Erziehungssystem nicht selten dem Rowdytum Tür und Tor geöffnet war . Das von einem Teilnehmer der RAI-Runde beklagte Phänomen des Bettnässens und des Heimwehs in dieser Altersklasse war u.a. die Folge dieser brutalen Erziehungsmethoden [xiv].
            Zu beklagen wäre hier nachträglich, dass die anwesenden Südtiroler Lehrer diese Missstände weder erkannt, noch sich für deren Behebung eingesetzt haben. Mag sein, dass es auch gefährlich war, hier einzugreifen. In den höheren Klassen kamen solche Zustände nicht mehr vor.


            Der Bericht der „Neuen Tageszeitung“, etwas überspitzt als Folge RAI-Sendung, ist in weiten Teilen als Reaktion zur genannten Naivität als etwas überspitzt aufzufassen, wenn dort von der
            Bild 8, Wieder Mangold mit dem SS-Sturmbannführer aus Berlin. Von den Tirolern ist nichts mehr zu erkennen.

            Begeisterung der jungen Leute in Verbindung mit dem Deutschen Sprachraum gesprochen wird, ja die Jugend als „Heil-Hitler-schreiende Bagage

            Bild 9 „Aufmärsche“: Großaufgebot im Gleichschritt in Straßburg 1942

            bezeichnet wird. Nun, wer die Vorkriegszeit mitgemacht hat, kann sich daran erinnern, mit welchem Erfolg die Propaganda der Nationalsozialisten Alt und Jung des (beinahe) ganzen Deutschen Volkes millionenfach in eine rauschartige Aufbruchstimmung gebracht hat. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade die Jugend davon angesteckt wurde, die mangels irgend einer staatsbürgerlicher Erziehung oder persönlicher Erfahrung nicht den blassesten Schimmer davon haben konnte, wohin das alles führen würde. In Südtirol mit seiner faschistischen Gegenwart war das noch leichter als anderswo. Jugendliche werden auch „Minderjahrige“ genannt und sind in diesem Sinn kaum verantwortlich dafür zu machen, all das nachgeäfft zu haben, was ihnen die Erwachsenen vormachten. Schlimm wird das erst, wenn man das alles ein halbes Jahrhundert später, als mindestens 70jähriger offensichtlich immer noch nicht begriffen hat.

            Wie kam man nach Rufach?
            Warum gerade die Anstalt im Elsass ausgewählt wurde, ist dem Verfasser nicht bekannt. Ein besonderes Vorkommnis in den Verhandlungen der ADERST mit Berlin könnte jedoch einen Hinweis geben. Bekanntlich war auch davon die Rede, den Südtiroler Optanten im Deutschen Reich einen geschlossenen Siedlungsraum anzubieten. Die Option für Deutschland sollte damit schmackhaft gemacht werde. Unter anderem war dabei im Jahr 1940 eine Gegend im Burgund im Gespräch, die nicht allzu weit vom Elsass entfernt gewesen wäre[xv].
            Im Anschluss an eine Bewerbung von Seiten der Eltern in den Jahren 1940 und 1941 fanden in Südtirol Aufnahmeprüfungen statt, die sich (z.B. auf der Seiser Alm, siehe Bild 1 und Bild 2) neben schulischen Themen auch auf geistige Orientierung und auf die Neigung der Betroffenen zu Geländespielen, Durchsetzungsvermögen, eventuellem Kommandoton beim klaren Sprechen usw. bezogen. Dies alles zusammen brachte –gelinde gesagt- natürlich eine sehr bunte Mischung an Schülern nach Rufach. So gehen auch heute noch die Meinungen in der Bewertung dieser Zeit weit auseinander. Wie könnte es auch anders sein. Mancher von Ihnen hat nach seiner Meinung so „goldene Zeiten“ wie in Rufach nie wieder erlebt, denn z.B. mit 16 Jahren eine ganze Hundertschaft mit „Alles hört auf mein Kommando“ zu kommandieren, mag auch eine tolle Sache gewesen sein.


            Interessant ist auch die für sich sprechende Reihenfolge der Schulfächer, hier der Kopf eines Schulzeugnisses:
            Reihenfolge der Schulnoten:
            1. Körperliche Ausbildung
              Leichtathletik, Kampfspiele, Geräteturnen, Schwimmen, Geländesport
            2. Künstlerische Ausbildung
              Singen, Instrumentenmusik, Musiklehre, Werkunterricht, Bildnerisches Gestalten, Werkbetrachtung
            3. Wissenschaftliche Ausbildung
              Deutsch, Geschichte, Biologie, Erdkunde, Physik, Chemie, Mathematik, Italienisch (wurde nie gelehrt), Latein, Englisch
            Noch etwas: Meine Mutter besuchte uns im Frühjahr 1943. Sie ging u.a. zum Anstaltsleiter Billing, um ihm mitzuteilen, dass ihre Söhne im nächsten Schuljahr Rufach verlassen, und nach der Abwanderung im neuen Heimatort studieren würden. „Meine liebe Frau Aichner, ich muss Sie enttäuschen, Ihre Söhne gehören dem Führer und werden hier bleiben“, meinte der Anstaltsleiter, ganz im Sinn der herrschenden Ideologie und Lebensart.
            Ein Klassenlehrer aus dem Reich der Klasse meines älteren Bruders in der Napola baute sich im April 1944 vor seinen Schülern auf:: „Ich erwarte von Euch, dass sich die ganze Klasse zu Ehren des kommenden Geburtstages des Führers (am 20.April) freiwillig zur SS-meldet“....

            .. Rufach, aus der Feder des Anstaltsleiters Billing im Jahre 1943 [xvi]
            Ein gutes Bild zum Gesamtkonzept der Anstalt Rufach gibt auch der nachstehende Bericht zur Entwicklung der Anstalt 1940 bis 1943 des Anstaltsleiters Billing, drei Jahre nach deren Bestehen wieder. Man beachte in der verwendeten Sprache die Diktion nationalsozialistischer Wortwahl und die absolut militärische Ausdrucksweise:

            „DIE ENTWICKLUNG DER ANSTALTEN
            Am 26. Oktober 1940 brachte ein Sonderzug 450 Südtiroler Jungen aus ihrem Heimatland nach Rufach (Bild 3, 4, 5). Seit diesem Tage besteht die Schule für Volksdeutsche. Auf Grund der mangelhaften und verschiedenartigen Vorbildung der Südtiroler Schüler wurden eine zunächst siebenklassige Oberschule, eine dreiklassige Mittelschule und eine zwei‑, später vierklassige Volksschule eingerichtet. Durch Auslese besonders begabter Jungen unter diesen Südtirolem wurde der Grundstock zu einer NPEA gelegt. Eine in der ersten Septemberhälfte des Jahres 1941 durchgeführte Vormusterung und Aufnahmeprüfung brachte so viele Jungmannanwärter aus Baden und dem Elsaß hinzu, daß am 1. Oktober 1941 die Nationalpolitische Erziehungsanstalt Rufach mit sechs Zügen[xvii] eröffnet werden konnte.,Beide Anstalten unterstehen einer einheitlichen Leitung und werden gemeinsam verwaltet.

            Am 24. und 25. Oktober 1941 trafen weitere 101 Südtiroler Jungen in der Anstalt ein und wurden nach ihrem Leistungsstand in die schon bestehenden Züge eingeordnet. Dadurch wurde die Neubildung eines 1. Oberschulzuges[xviii] und eines Hauptschulzuges notwendig. Die beiden Anstalten waren so zu einer Stärke von 600 Jungmannen


            Bild 10, Im Zeichenunterricht: „Erinnerung an die Abfahrt in Bozen“. Die kindliche Zeichnung steht im krassen Widerspruch zum forschen Auftreten in Uniform der Schüler


            angewachsen. Zur Vermeidung einer Überlastung siedelten vom 14. bis 16. Februar 1942 die drei Züge der Mittelschulabteilung mit ihren Erziehern nach
            Schweikelberg/Niederbayern um und bildeten dort die Stammjungmannschaft der neu errichteten Schule für Volksdeutsche Schweikelberg auf Grund von Prüfungen in der ersten Julihälfte 1942 wurden 34 Jungmannanwärter für den künftigen 1. NPEA.‑Zug und 21 Jungmannanwärter für die bestehenden NPEA.‑Züge 1‑5 in die Anstalt aufgenommen. Am 30. September 1942 trafen weitere 44 Südtiroler Jungen in der Schule für Volksdeutsche ein. Der Hauptschulzug siedelte am 2. Oktober 1942 nach Schweiklberg um. Somit verblieben in Rufach 7 Züge NPEA., 7 Züge Schule für Volksdeutsche Oberschule, 4 Züge „Schule für Volksdeutsche“.

            Am 23. Oktober 1942 wurden im Austausch 17 Jungmannen von Schweikelberg nach Rufach in die Volksschulabteilung umgeschult.
            Durch Aufnahmeprüfung vom 16.‑21. November 1942 wurden 57 Jungmannanwärter aus Baden und dem Elsaß in die Züge 1‑5 der NPEA. Rufach aufgenommen, durch ebensolche vom 10.‑15. Mai 1943 und 24.‑29. Mai 1943 in

            Bild 11 , ... die Zeichnungen bekommen schon klarere Konturen...

            die Züge 1‑4 insgesamt 12 Jungmannen, und für den künftigen 1. NPEA.‑Zug 48 Jungmannanwärter. So wird die NPEA. Rufach im Unterrichtsjahr 1943/44 mit sieben Zügen und etwa 220 jungmannen ihren Dienst beginnen.

            Im Juli 1942 rückten sämtliche Jungmannen des obersten Oberschulzuges als Freiwillige zur deutschen Wehrmacht bzw. zur Waffen‑SS ein und erhielten damit den Reifevermerk. Auch am Ende dieses Unterrichtsjahres verließen sämtliche Jungmannen des obersten (7.) Zuges sowohl der NPEA. als auch der Oberschule die Anstalt, um als Freiwillige in, den RAD. bzw. in die Wehrmacht oder Waffen‑SS einzutreten und ihre in der Anstalt erworbene Haltung und Gesinnung an der Front unter Beweis zu stellen. Jeder neue Zugang und Abgang von Jungmannen hatte eine Umbelegung in andere Anstaltsgebäude zur Folge. Die Anstaltsgebäude mussten zweckentsprechend um‑ und ausgebaut werden. Die Aufteilung der einzelnen Unterkunftsgebäude hat mit der Zeit eine einheitliche Lösung dadurch erfahren, dass der Schule für Volksdeutsche die südlich und der NPEA. die nordwestlich gelegenen Bauten zugesprochen wurden.

            Das Erzieherkorps war naturgemäß stetigem Wechsel unterworfen.
            Die Entwicklung der beiden Anstalten war seit deren Beginn durch Kampf [xix] gekennzeichnet. In klarer Zielstrebigkeit wollen wir mit Freude am begonnenen Werk weiter arbeiten“.

            Billing, Anstaltsleiter


            „die volkspolitische Aufgabe der Anstalt“, Zugführer Mangold

            Aus dem gleichen Anstaltsheft 1943 entnehmen wir noch nachstehenden, äusserst aufschlussreichen Beitrag zur Ideologie nationalsozialistischer Erziehung in Verbindung mit den „Umsiedlugsplänen“ des Führers Adolf Hitlers, mit denen man zu Kriegsbeginn alle so genannten Auslandsdeutschen „heim ins Reich“ lockte, um sie später in den neu eroberten Gebieten wieder anzusiedeln.
            Mangold war Kunsterzieher (Malen und Zeichnen, Bild 10, 11 ein Schulfach, das im Dritten Reich intensiv gepflegt wurde. Man sagt, weil A. Hitler sich stets als „verhinderter“ Künstler sah. Er war wiederholt Gast und Gastredner bei den weiter unten geschilderten „Rufacher Treffen“. Es ist nicht klar, ob der hier gezeigte Durchhaltewillen mehr der persönlichen Überzeugung entsprach, oder der drohenden Einberufung entgegenwirken sollte.

            Bild 12 Die „Umsiedlungspläne“ A. Hitlers[xx]

            Möglich war 1943 alles, als sich der Kriegsausgang schon weitgehend abzeichnete. Bereits ein knappes Jahr später sollte die Anstalt schon aufgelöst sein.
            Die Offenheit des Berichtes macht den Text zu einem sehr wertvollen Zeitdokument der Blut- und Bodenideologie des Dritten Reiches:

            DIE VOLKSTUMSPOLITISCHE AUFGABE DER ANSTALTEN [xxi]

            Bei der Gründung unserer Anstalt waren wir uns von Anfang an der großen volkstumspolitischen Aufgabe bewusst, die wir innerhalb und außerhalb unserer Anstaltsgemeinschaft zu erfüllen haben. Die volksdeutsche Herkunft vieler Jungmannen, das Erlebnis des Volkstumskampfes in ihren Heimatländern und die Lage unserer Anstalt im wiedergewonnenen deutschen Elsass bildeten die notwendigen Voraussetzungen zur Erziehung zum gesamtdeutschen Bewusstsein. Unabhängig von den verschiedenen Staatsangehörigkeiten, die unsere Jungmannen mitbrachten, hat das freiwillige Bekenntnis zum deutschen Volkstum sie mit ihren reichsdeutschen Kameraden zu einer echten Gemeinschaft zusammengeführt, und dieses Beispiel der Jungmannen hat auch so manchem elsässischen Volksgenossen die Augen geöffnet, dass es doch noch etwas gibt, das über allem andern steht: das Gesetz des gemeinsamen Blutes. Indem die Jungmannen aus Südtirol, aus Rumänien, Galizien, Ungarn und Serbien, aus Flandern, Holland, der Schweiz, aus Frankreich (Bild 12) und aus Übersee zusammen mit ihren elsässischen und reichsdeutschen Kameraden in einer Front, in einer Uniform sich um das Banner des Führers scharen (Bild 8, 9), folgen sie dem Beispiel ihrer Väter und Brüder, die an der Front die Idee des heiligen germanischen Reiches mit ihrem Blute besiegeln. Wenn auch in Anbetracht der verschiedenen schulischen Vorbildungen der jungen an die Erzieher erhöhte Anforderungen gestellt werden, so wird diese Mehrarbeit gerne geleistet, gewinnen wir doch damit unserem Volke wertvollstes deutsches Blut zurück, das sonst im Fremdvolk untergegangen wäre. Die Volksdeutschen leisten ihre Dankes schuld ab durch entsprechend hohen Lerneifer und stete Einsatzbereitschaft. Vielen dieser Jungmannen gelang es auf Grund ihrer überdurchschnittlichen Leistungen. Von der Schule für Volksdeutsche in die Nationalpolitische Erziehungsanstalt überzutreten. Reichsdeutsche und volksdeutsche Jungmannen der Nationalpolitischen Erziehungs anstalt und der Schule für Volksdeutsche erleben somit durch gegenseitigen Gedanken austausch die Größe unseres Lebensraumes und damit unseres Reiches. Das, was sie mit ihren Kräften schon heute zum Gelingen des großen Sieges beitragen können, geschieht neben ihrer Arbeit auf sportlichem, musischem und wissenschaftlichem Gebiet besonders durch den politischen Einsatz. Seien es weltanschauliche Feierstunden, Aufmärsche, Hj.‑Einsatz auf den Dörfern oder Landdienst im wiedergewonnenen deutschen Osten und Einsatz bei der Kinderlandverschickung in der Slowakei, überall bieten sich unseren Jungmannen Möglichkeiten volkstums- politischer Bewährung. Diese Einsätze, bei denen der Jungmann oft auf sich allein gestellt ist, vermitteln ihm am ehesten das politische Rüstzeug, das für ihn in Zukunft notwendig ist. Das Elsaß selbst mit seinen zahlreichen Denkmälern aus der deutschen Geschichte und die Lage der Anstalt auf den Grundmauern einer bedeutenden Niederlassung des Deutschen Ritterordens haben an der Erziehung zum gesamtdeutschen Bewusstsein unserer Jungmannen einen wesentlichen Anteil. Von den Höhen der Vogesen schauen sie hinab zur Burgundischen Pforte in ursprünglich germanisches Land, aus dem einst die deutsche Kaiserkrone kam. Bei klarer Sicht sehen sie die Schweizer Berge und erinnern sich der Worte Conrad Ferdinand Meyers: "Geduld, es kommt der Tag, da wird gespannt ein einig Zelt ob allem deutschen Land". Ausmärsche zum Hartmannsweilerkopf, der Besuch der Kriegsgräber aus dem ersten und zweiten Weltkriege und die Stunden an der Stelle des Rheinüberganges bei Breisach sind für den Jungmann unvergessliche Erlebnisse. Hier fühlt er wohl am stärksten den harten Schicksalsweg, den das Reich im Laufe der Geschichte gehen musste, bis es zu dieser Macht und‑ Größe der heutigen Zeit emporsteigen konnte. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass auch Erzieher und Gefolgschaftsmitglieder im politischen Einsatz stehen. So werden aus den Reihen des Erzieherkorps folgende wichtigen politischen Ämter bekleidet: der Schulungsleiter beim SS‑Abschnitt XXXXV in Straßburg, der Kreisschulungsleiter in Gebweiler, der Ortsgruppenleiter in Rufach und die örtlichen Führer der SA., SS und des Reichsluftschutzbundes. Der Betriebsobmann ist gleichzeitig auch Ortsobmann der DAF. Die Verbindung zur Hitler‑Jugend ist durch einen Erzieher, der Hj.‑Führer ist, gewährleistet. Die enge Verbundenheit mit der Stadt Rufach besteht durch die Besetzung der Stellen des 2. Beigeordneten und dreier Ratsherren im Stadtrat, wovon zwei Ratsherren Gefolgschaftsmitglieder der Anstalt sind. Die Leitung des örtlichen Geschichts‑ und Altertumsvereins für die Südvogesen hat ebenfalls ein Erzieher. So leistet die Anstalt in der politischen Aufbauarbeit des Elsass ihren besonderen Beitrag.
            Diejenigen Erzieher, Jungmannen und Gefolg-schaftsmitglieder, die an der Front stehen, können die Gewissheit haben, dass auch ihre Kameraden in der Heimat ihre Pflicht tun. Stets den Blick auf den Führer gerichtet, wollen wir seiner Worte eingedenk sein:

            "Die letzte Unsterblichkeit auf dieser Welt liegt in der Erhaltung des Volkstums."
            Heinrich Mangold

            So weit die Worte aus der Feder zweier maßgeblicher Exponenten. Man berücksichtige jedoch, dass solche Wortlaute (die schon Jahre früher zu hören waren), in der Zeit der Auseinandersetzung mit dem Faschismus in Südtirol verständlicherweise nur zu gerne gehört wurden, bzw. Beachtung fanden.

            Das Elsaß unter dem Nationalsozialismus[xxii]
            Es blieb auch den Rufacher Schülern nicht verborgen, dass die Elsässer im Allgemeinen wenig begeistert waren, nunmehr zum Bild 13, Deutsche Verordnung im Elsaß Großdeutschen Reich zu gehören.


            Hauptsächlich wohl deshalb, weil sie nun nach dem Kriegsende mit Deutschland umgehend zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurden. Etwa 100.000 Mann, wovon ca. 25.000 nicht mehr zurückkehrten. Seit 1872 waren sie immerhin unter Frankreich und die Mittel- und Oberschicht war weitgehend französisch eingestellt. Es konnte auch nicht verborgen sein, dass die Deutschen mit den Elsässern unter diesem Aspekt ziemlich gleich wie Mussolini in Südtirol vorgingen:
            • der Gebrauch der französischen Sprache (auch im Familienkreis) war bei Strafe verboten (Bild 13),
            • Alle französisch klingenden Namen und Bezeichnungen (natürlich auch die Ortsnamen!) wurden wieder eingedeutscht,
            • Das Tragen der französischen (Basken) Mütze[xxiii] war bei Strafe von 150 Reichsmark verboten, usw., um nur einige zu nennen. In der Verwaltung wurden nur Beamte aus dem Reich eingestellt. Ebenso Lehrer und Professoren, die zudem noch in der Wehrmacht gedient haben mussten.
            In der Tat trugen in der Anstalt alle Lehrer (allgemein „Erzieher“ oder „Zugführer“ genannt, Wehrmachts- bzw. SS-Uniformen oder die goldgelbe SA-Uniform, deren Träger


            Bild 14 Tomi Ungerer karikiert 1941 seinen Deutschlehrer aus dem Reich

            im Reich spöttisch als „Goldfasane“ bezeichnet wurden.
            Tomi Ungerer war ein gleichaltriger Oberschüler in Kolmar, nur etwa 10km von der Anstalt entfernt. Auch ihm war die Anstalt Rufach bekannt, wie aus einer Textprobe des untengenannten Buches zu entnehmen ist:
            [...] Man versprach uns Geld als Belohnung für Denunziationen; wir sollten sogar melden, was unsere Eltern sagten. Ich kenne keinen einzigen Fall, wo das passiert wäre. Und was der Gipfel war: Man sagte uns, falls unsere Eltern verhaftet würden, hätten wir Aussichten, nach Rufach ins Naziinternat zu kommen, in die NaPoLa (Nationalpolitische Erziehungsanstalt), die in einer ehemaligen Irrenanstalt untergebracht war. [...]
            Tomi Ungerer aus Colmar ist heute ein Zeichner und Maler von Weltruf[xxiv] und zeichnete als 12 Jähriger zur selben Zeit, wie seine Altersgenossen in Rufach. Man muss allerdings zu- geben, dass er dabei in der Wahl seiner Motive die größeren Freiheiten hatte, als wir. Zum Unterschied von uns, konnte er Zeichnen, was er wirklich dachte, wenn er auf Bild 14 seinen, aus dem Reich zugezogenen und Lederhosen tragenden Lehrer in Lederhosen karikierte.

            Das Ende der Anstalt Rufach,
            erstmals wieder staatliche deutsche Oberschulen in Südtirol

            Die Anstalt Rufach wurde 1944 im Zuge der Ereignisse vom 8. September 1943 [xxv]und infolge des Einmarsches der amerikanischen Truppen im Elsass 1944 geräumt und aufgelöst. Die Schüler kamen nach Hall in Tirol, nach St.Ulrich in Gröden und in das teilweise leer stehende Vinzentinum in Brixen. Militärfähige Schüler wurden als „Freiwillige“ eingezogen und so der gesamte Spuk „Rufach“ bald vorbei. Die Oberschulen hatten in der Nachkriegszeit ihre Fortsetzung mit einem kleinen Rest von kaum 80-100 Schülern im wesentlichen im 1945 neu errichteten wissenschaftlichen Lyzeum in Brixen. Rufach dauerte nicht ganz vier Jahre. Insgesamt nur eine kurze Zeit, in der die Insassen allerdings viel erlebt hatten, und in der Erinnerung nimmt diese Zeit heute bei vielen einen wesentlich längeren Zeitraum in der Erinnerung der Betroffenen ein.
            Südtirol sollte eine Autonomie erhalten und die neue Landesregierung in Südtirol bemühte sich intensivst um die Errichtung staatlicher Schulen in deutscher Sprache, wohl auch, um u.a. die „herrenlos“ gebliebenen Rufacher bzw. deren Nachfolger in Gröden und Brixen wieder zu integrieren. Als erste Schule dieser Art wurde das Wissenschaftliche Lyzeum in Brixen ins Leben gerufen (heute die „Realschule Ph. Fallmereyer“ genannt), das im vorliegenden Kontext, außer den bestehenden, meist kirchlich geführten Anstalten, Vinzentinum in Brixen, das Franziskanergymnasium in Bozen und das Johanneum in Dorf Tirol als „Auffanglager“ der Rufacher Oberschule anzusehen ist. Hauptsächlich in Brixen trafen sich 1945 (teilweise als Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft) zur Abschlussklasse alle jene, die in Rufach oder im sonstigen, ehemaligen Deutschen Reich keinen Abschluss machen konnten, mit Unterkunft im dazu eingerichteten Kassianeum. Auch der Lehrkörper rekrutierte sich im wesentlichen aus Südtiroler Professoren, die in Rufach schon tätig waren. Einer Maturaklasse in deutscher Sprache für 1946 stand also nichts im Wege.
            Das neue, gemischte Schulmodell sollte sich in den kommenden Jahrzehnten bestens bewähren. Für diejenigen, die sich in Rufach nicht wohlgefühlt haben, eine sehr erfreuliche Entwicklung, denn die dort pubertierenden Plagegeister waren wie vom Erdboden verschwunden und es gab wieder festen Boden unter den Füßen für die dort Verunsicherten. Viel zu neuen positiven Lebenserfahrungen hat auch Dr. Josef Gargitter und seine Mitarbeiter im Schülerheim Kassianeum beigetragen, der erste dortige Regens und spätere Bischof von Brixen, wenn er und seine Mitarbeiter größtes Verständnis für uns Jugendliche zeigten und von allen Schülern daher sehr geschätzt waren.
            Heute gibt es ein breit gefächerts Angebot an staatlichen Schultypen in deutscher Unterrichtssprache in allen größeren Orten in Südtirol und die vormaligen, kirchlich geleiteten Hochburgen Vinzentinum, Joanneum, Franziskaner spielen nicht mehr jene tragende Rolle bzw. sind ganz geschlossen. Diesen, stets mit deutschsprachigem Unterricht geführten, kirchlichen Lehranstalten gebührt der Verdienst dafür, dass sie (auch mit dem Religionsunterricht in den Volksschulen) in den Zeiten des Faschismus die einzigen Schulen waren, in denen die Deutsche Sprache weiter gelehrt wurde. Auch der reichliche Priesternachwuchs der unmittelbaren Nachkriegszeit findet darin seine Erklärung. Wegen fehlender Oberschulen währen der Faschistenzeit hatte die studierwillige Jugend mit ihren mangelnden Italienischkenntnissen in Südtirol außer in den kirchlich geführten Anstalten wenige andere Möglichkeiten, einen anderen akademischen Beruf zu wählen. So ist der schwindende Zuspruch in Priesterseminaren weniger dramatisch zu erklären, als es vielfach geschieht.

            sog. „Rufacher“-Treffen
            In mehrjährigen Abständen finden Treffen ehemaliger Rufacher statt. Der übergroße Teil will bei diesen Treffen jedoch ehemalige „Schicksalsgenossen“ wiedersehen und sonst gar nichts, denn die Rufacher Zeit hat aus Ihnen zweifellos eine Schicksalgemeinschaft und eine noch heute über alle sozialen Barrieren wirkende Solidarität der Betroffenen hervorgebracht. Dies ist erstaunlich und soll nicht unbedingt in einen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden, sondern als einschneidende Lebenserfahrung für alle. In der RAI-Sendung wurde da nicht differenziert.
            Festzustellen ist aber auch, dass trotz allem viele namhafte Persönlichkeiten der Nachkriegszeit im privaten Dienst und in der öffentlichen Verwaltung aus der „Rufacher“ Generation hervorgegangen sind. Die kurzzeitige „Flucht aus der lokalen Enge“ hat so auch ihre gute Wirkung gehabt. Sie hatten Glück, dass es bei dieser „kurzen Zeit“ blieb. Nicht wenige haben jedoch ihr Leben im Krieg verloren, denn die „vormilitärische Erziehung“ machte sie für diesen Dienst mehr als attraktiv.

            Vor allen Dingen waren die Rufacher und andere Schüler, die im Deutschen Reich während des Krieges Oberschulen besuchten, ab 1945 eine wichtige Voraussetzung zur Einrichtung einer deutschsprachigen Verwaltung und von Staatlichen Oberschulen in Deutscher Sprache in Südtirol.


            Dr.-Ing. Peter Aichner

            Brixen, im März 2002


            [i] Rufach (heute franz. Rouffach) ist ein kleines Städtchen im Oberelsaß, etwa 10 km südlich von Colmar am Fuße der Vogesen. Eine seinerzeitige „Irrenanstalt (sic) wurde von den Fransosen vor dem Einmarsch der Deutschen Truppen geräumt und nach Süd-West Frankreich verlegt und entsprechend einem allgemeinen Gesuch der ADERST in Bozen von der Regierung in Berlin geräumt und der Südtiroler Studierjugend der Optanten für Deutschland zugewiesen.
            [ii] Bestehend aus einer Volksschule, einer Mittelschule (etwa Hauptschule) und einer Oberschule
            [iii] nur eine Oberschule nach weiterer „Auslese“ der Ankömmlinge.
            [iv] Wolfgang Obwexer, „Die Südtiroler Optantenschule in Rufach“, Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Inssbruck, Jänner 1987, 350 Seiten, persönlich vom Verfasser überreicht.
            [v] Dies geschah im Augenblick der Option für Deutschland
            [vi] siehe ebenso in 4 Wolfgang Obwexer
            [vii] Siehe in: Dr. Oswald Sailer Athesia 1985 „Schule im Krieg“, Deutscher Unterricht in Südtirol 1940-1945, S.10
            [viii] ebenda Seite 22
            [ix] Es sei vorausgeschickt, dass in jeder Oberschule des Deutschen Reiches ein Abgesandter des Reichsführers der SS Heinrich Himmlers saß, der die eindeutige Ausrichtung der Ausbildung zu überwachen hatte. Reichsführer SS H.Himmler hatte die Schulen fest im Griff.
            [x] Rainer Seeberich „Südtiroler Schulgeschichte“, Muttersprachlicher Unterricht unter fremdem Gesetz, Seite 107
            [xi] ebenda Seite 109 (diese Angaben und Zahlen bedürfen wohl einer näheren Überprüfung, da in Rufach bekanntlich auch eine Volks- und Mittelschule untergebracht waren, auch gibt es unterschiedliche Angaben)
            [xii] Zum Leben in den Anstalten Rufach und Achern gab die Anstaltsleitung in den Jahren 1941, 1942 und 1943 insgesamt vier Schriften heraus, mit Aufsätzen der Schüler, mit Zeittafeln und vor allem mit Bildern heraus, aus denen die vorliegenden Bilder entnommen sind.
            [xiii] Gauleiter Wagner wird 1946 von den Franzosen in der Nähe von Straßburg hingerichtet.
            [xiv] Schüler der oberen Klassen drangen vermummt in die Schlafsäle der wehrlosen Zehn- bis Elfjährigen ein, um sie grundlos zu verprügeln. „Besuch des heiligen Geistes“, (wie sich diese Gepflogenheit nannte). Vergehen gegen den „Kameradschaftsgeist“, wie Diebstahl wurde in solcher Weise in Form einer Lynchjustiz geahndet. Betroffene wurden grün und blau verprügelt. In den gemeinsamen Duschräumen konnte man sich davon überzeugen.
            [xv] Leopold Steurer, FÖHN, Südtirol 1939-1945, Option, Umsiedlung, Widerstand, „Abwanderung und Siedlungsgebiete“, Seite 164 ff.
            Übrigens hat dieses Versprechen auch Bischof Geisler in Brixen zur Option für Deutschland bewogen. Ihm hatte man sogar eine geschlossese Diözese zugesagt.
            [xvi] Aus „Nationalpolitische Erziehungsanstalt, Schule für Volksdeutsche“, Heft 3, 1943.
            [xvii] In Anlehnung an die militärische Ausrichtung der Schule wurde an Stelle des Wortes „Klasse“ die Bezeichnung „Zug“ gewählt, als kleinste Einheit einer Hundertschaft = alle Klassen eines Schultyps.
            [xviii] In diese 1.Oberschulklasse wurde ich aufgenommen
            [xix] Hervorgehoben und unterstrichen vom Verfasser
            [xx] Aus „Föhn“
            [xxi] Heinrich Mangold, in Heft 3 der Rufacher Schriften 1943
            [xxii] Tomi Ungerer, „Die Gedanken sind frei“, Meine Kindheit im Elsaß, Diogenes Verlag, Zürich
            [xxiii] Die (Südtiroler)Hitlerjugend aus der Anstalt Rufach machte sich einen Spaß daraus, einem Elsässer diese Mütze vom Kopf zu hauen, wenn sie ihn damit antraf. Der Verfasser kann sich selbst an einen solchen Vorfall bei einem Ausmarsch in Uniform erinnern.
            [xxiv] Ebenso in 15
            [xxv] Mussolini wird gestürzt und die Deutschen Truppen besetzen Italien. Die „Operationszone Alpenvorland“ des Deutschen Reiches wird gegründet, bestehend aus den Provinzen Bozen, Trient und Belluno mit dem Gauleiter Hofer in Innsbruck an der Spitze.